„Auch grüne Politik ist nicht frei von Irrtum“

Grünen-Vordenker Jürgen Trittin warnt im Handelsblatt-Gespräch vor einem Verschieben der Energiewende. „Wir müssen raus aus Atom und raus aus der Kohle. Zu glauben, an den alten Technologien irgendwie festhalten zu können, verlängert nur die Abhängigkeit vom russischem Öl, von Gas und Kohle“, sagt er.

Die neue Bundesregierung und damit auch die Grünen müssten vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges sich allerdingts schon von alten Gewissheiten verabschieden. Dazu zähle unter anderem auch, die Schuldenbremse bald wieder einhalten zu können. „Ich glaube, dass wir angesichts der Belastungen, die auf uns zukommen, nicht drumherum kommen werden, die Schuldenbremse noch einmal auszusetzen.“

Herr Trittin, im Osten Europas tobt ein Krieg, binnen Tagen musste Deutschland jahrzehntelang geltende Positionen in der Sicherheitspolitik räumen. Erinnert Sie die Situation an den Kosovokrieg Ende der 1990er-Jahre, als sich die rot-grüne Regierung am Nato-Einsatz beteiligte?
Man bemüht solche historischen Analogien, und dann stimmen sie doch nicht. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat es gesagt: Wir sind mit einer neuen Situation konfrontiert, die 1990 rückabwickeln will. Darauf muss man neue Antworten finden. Wir müssen uns von vielen alten Gewissheiten verabschieden.

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Zum Beispiel?
Das ist in erster Linie die Tatsache, dass wir jetzt wieder stärker über Bündnisverteidigung reden. Aber Sicherheit in Europa hat dann ja nicht nur eine militärische Seite. Wir müssen auch schneller aus den fossilen Energien aussteigen, wenn wir von Russland unabhängiger werden wollen. Und wir brauchen zusätzliche Investitionen in unsere Energiesicherheit. Gleichzeitig müssen wir steigende Energiepreise abfedern. Und es braucht auch eine Verstärkung in der Entwicklungszusammenarbeit. Ich blicke da auch nach Ländern wie Moldawien, die möglicherweise das nächste Ziel des Kremls sind.

Wie soll der Bund diese Herausforderungen finanzieren?
Ich glaube, dass wir angesichts der Belastungen, die auf uns zukommen, nicht drumherum kommen werden, die Schuldenbremse noch einmal auszusetzen.

Sondervermögen für die Bundeswehr

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) will ein eigenes Sondervermögen für die Bundeswehr im Grundgesetz. Wäre das dann der falsche Ansatz?
Über die genaue Ausgestaltung des Sondervermögens entscheidet der Bundestag. Der Verzicht auf eine Grundgesetzänderung hätte den großen Vorteil für Herrn Lindner, nicht bei der Union darum betteln zu müssen.

Bundeswehrsoldaten

Beim Beschaffungswesen der Bundeswehr müsse irgendwo ein großes Loch sein.

(Foto: imago images / Björn Trotzki)

Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) wusste vom Umfang des Sondervermögens bis zur Rede von Kanzler Olaf Scholz (SPD) nichts. Fühlen Sie sich nicht übergangen?
Die Summe ist eine symbolische Zahl, schön und leicht zu merken. Wie viel es in welchem Jahr genau sein wird, wird sich zeigen. Mit dem Geld wird die Ausstattung der Soldaten verbessert, ein europäisches Kampfflugzeug mitfinanziert, bewaffnete Drohnen. Dass das nicht zum Nulltarif zu haben sein wird, das haben wir Grüne schon vorher gesagt. Die Vorhaben finden sich übrigens auch im Koalitionsvertrag.

Man hat auch den Eindruck, Scholz versucht, Ideen anderer als seine zu verkaufen. Wir denken da an Nord Stream 2, dessen Kappung eigentlich Habeck angestoßen hatte. Muss man sich das gefallen lassen? Und stehen die Grünen noch geschlossen hinter den Entscheidungen?
Olaf Scholz ist der Kanzler, und die Koalition macht viele gute Dinge, die am Ende oft mit dem Kanzler nach Hause gehen. Das muss man souverän hinnehmen und stolz auf das gemeinsam Erreichte sein. Durch so ein Gejammer, wie es die SPD zu Merkel-Zeiten an den Tag gelegt hat, macht man sich kleiner, als man ist.

Bereuen Sie, als Grüne nicht auf eine bessere Ausstattung der Bundeswehr gepocht zu haben?
Keine Politik ist frei von Irrtum. Das gilt auch für grüne Politik. Wir haben allerdings nie so platt argumentiert, dass kein Geld nötig ist. Wir haben bei fast allen Einsätzen in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass die Bundeswehr schlecht ausgerüstet ist. Neu ist jetzt, dass sich die Bundeswehr künftig auf zwei Aufgaben konzentrieren muss: auf Auslandseinsätze und auf Selbstverteidigung. Und das wird teurer.

Reform des Beschaffungswesens

An die Aufstockung der Mittel soll eine Reform des Beschaffungswesens der Bundeswehr geknüpft werden. Daran sind schon viele Verteidigungsminister gescheitert. Warum sollte es jetzt gelingen?
Weil es jetzt gelingen muss. Deutschland nimmt schon jetzt fast so viel Geld in die Hand wie Russland, aber ist nicht einmal in der Lage, 900 Soldatinnen und Soldaten, die wir zur Abschreckung nach Litauen schicken, anständig auszurüsten. Da muss irgendwo ein großes Loch sein. Diese Art der Geldverbrennung muss ein Ende haben.

Knüpfen die Grünen die Zustimmung zu den 100 Milliarden mehr für die Bundeswehr an mehr Geld für die Energiewende?
Ich bin kein Freund gegenseitiger Geiselnahmen, aber natürlich ist die Notwendigkeit groß, unsere Energieversorgung zu sichern. Wir müssen den Menschen die Sorge nehmen, im nächsten Winter möglicherweise im Kalten zu sitzen. Dazu müssen wir die Gasspeicher auffüllen, neue Kohle- und Gasverträge teuer einkaufen und so unsere Unabhängigkeit vorantreiben. Kostet das 50 Milliarden? 150? Das wissen wir nicht.

Wird der russische Präsident Wladimir Putin als Gegenreaktion auf die Sanktionen den Gashahn zudrehen?
Er wird jedenfalls das Gas nicht für umsonst liefern. Und je mehr und härter wir Sanktionen ergreifen, desto wahrscheinlicher wird es, dass er diesen Weg geht.

Braucht es auch Atomstrom über 2022 hinaus und einen Abschied vom früheren Kohleausstieg?
Die drei ostdeutschen Ministerpräsidenten, die jetzt gern länger Braunkohle abbauen wollen, erinnern mich an einen stadtbekannten Trinker, der nächste Woche aufhören will zu saufen, aber sich bis dahin noch mal richtig die Kante gibt. Nein, wir müssen raus aus Atom und raus aus der Kohle. Zu glauben, an den alten Technologien irgendwie festhalten zu können, verlängert nur die Abhängigkeit vom russischem Öl, von Gas und Kohle.

Mehr: Die 100-Milliarden-Euro-Frage – Ziehen Grüne und SPD mit?